Werde ich träumen? Das »Himmlische Jerusalem«
Offb 21,1–5a, Fünfter Sonntag der Osterzeit C
I
»Werde ich träumen, Dr. Chandra?«, fragt HAL, der reaktivierte Supercomputer der »Discovery« in dem Science Fiction-Klassiker »2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen«. In einer vorhergehenden Mission musste diese erste künstliche Intelligenz abgeschaltet werden, weil sie alle Crew-Mitglieder bis auf einen getötet hatte. Der erfolgreiche Auftrag war dem Computer wichtiger als viele Menschenleben. Jetzt, in der verbesserten Version, ist er bereit, sich für die Crew zu opfern und stellt dabei die gleichen existenziellen Fragen, wie Menschen sie stellen würden. »Ja, du wirst träumen«, antwortet der Schiffsingenieur Dr. Chandra. »Alle intelligenten Wesen träumen.«
Alle intelligenten Wesen träumen. Das ist in der Tat ein wesentliches Merkmal unserer Existenz. Wir träumen, nicht nur, weil diese Funktion irgendwie in unser Gehirn einprogrammiert ist, sondern weil es zu unserer Verfassung gehört, dass wir mit den Tatsachen dieser Welt, so wie sie sind, nicht zufrieden sind.
Gewiss gibt es die Augenblicke, in denen wir unser Leben ganz wunderbar finden. Wir genießen die Schönheit der Natur, wir staunen über die Kreativität, die in uns als Geschöpfen dieser Natur steckt. Wir bewundern die großartigen Zeugnisse von Kunst und Literatur, Wissenschaft und Technik. Wir fühlen uns geborgen in erfüllenden menschlichen Beziehungen.
Gleichzeitig wissen wir, dass alle Freude und aller Genuss nicht perfekt sind. Neben den Erfahrungen des Gelingens stehen andere. Immer wieder scheitern wir. Beziehungen zerbrechen, wir fallen heraus aus der Geborgenheit und fühlen uns verloren. Wir verderben die Schöpfung und bedrohen das Leben auf der Erde, einschließlich unseres eigenen. Vor allem aber: Alles Schöne und Wunderbare, das wir erfahren, ist endlich. Am Ende fallen auch die großartigsten Dinge und die erfülltesten Lebensläufe ins Nichts.
II
Die unausrottbare Sehnsucht, mit der wir nach einem perfekten, einem dauerhaften Glück suchen, kann daher nicht erstaunen. Und weil wir das Glück nirgendwo finden, möchten wir es selbst herstellen. Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Suche nach »künstlichen Paradiesen«. In der Neuen Welt anderer Kontinente wurde dieses Paradies gesucht; mittlerweile genügen uns die Grenzen dieser Welt nicht mehr: Tech-Milliardäre und Abenteurer versprechen uns neue Welten auf anderen Planeten. Wir suchen das Paradies in virtuellen Realitäten; dazu brauchen wir keine bewusstseinsverändernden Substanzen mehr, bald wird es genügen, eine Virtual Reality-Brille von Meta oder Google aufzusetzen.
Die Versprechen dieser neuen Welt sind verführerisch: Alle Grenzen können wir überwinden. Die Grenzen des Wissens, weil eine künstliche Intelligenz auf alle Fragen eine Antwort hat. Die Grenzen unserer Spezies, weil transhumanistische Technologie unsere Sinne, unsere Erfahrungsmöglichkeiten und Fähigkeiten auf ungeahnte Weise erweitert. Die Grenzen der Endlichkeit, wenn wir erst einmal in der Lage sind, unser Bewusstsein von seiner gebrechlichen organischen Hülle in eine unkaputtbare Hardware upzuloaden.
III
Ist es das, was auch die Bibel uns verspricht, wenn sie heute in der Lesung einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißt? Und scheint nicht der Künstler Heribert Krotter, dessen Werk »Das Himmlische Jerusalem« wir heute bei uns in der Kirche haben, dies zu bestätigen? Sein Himmlisches Jerusalem strahlt tatsächlich von Gold und Silber. Es sind die Edelmetalle und die ungeheuer feinen Strukturen von Leiterplatinen, die diesen Glanz erzeugen. Ja, »die heilige Stadt, das neue Jerusalem, [wird] von Gott her aus dem Himmel herabkommen« (Offb 21,2), so verheißt es der Seher der Offenbarung. Muss nicht Gott auch in unserer irdischen Welt erfahrbar werden, wenn die Hoffnung nicht pure Jenseitsvertröstung bleiben soll? Und macht unser technologisches Können nicht offenbar, welche großartige Geheimnisse dieses Universum bereithält? Wie jedes gute Kunstwerk lehrt uns auch dieses das Staunen und hält uns dazu an, unser Glück in dieser, nicht in einer anderen Welt zu wagen. Doch wie jedes gute Kunstwerk ist auch dieses nicht eindeutig, sondern hintergründig, vielleicht sogar abgründig.
Denn als abgründig und zutiefst ambivalent erweisen sich auch unsere Sehnsüchte nach einem künstlichen Paradies. Kann eine vollständig automatisierte Realität wirklich leibhaftige menschliche Beziehungen ersetzen? Man weiß nicht, welche Maschinen schneller entwickelt sein werden: Pflege- oder Sex-Roboter, aber keiner von ihnen scheint uns ein erfüllendes Gegenüber zu sein. Überhaupt ist es fraglich, ob es bewusstes Leben ohne einen sterblichen organischen Leib geben kann. Unser Gehirn ist kein binärer Computer und unsere Erfahrung sitzt nicht nur im Gehirn. Wir sind ein Leib, zu dem auch Hand und Fuß gehören, Sinnlichkeit und nicht zuletzt die Grenzen der Endlichkeit. Gerade weil wir nicht alles wissen, bleiben wir offen und neugierig; gerade weil wir mit dem Bestehenden nicht zufrieden sind, können wir an eine ganz andere Welt denken.
Der Himmel unserer künstlichen Paradiese ist also nicht viel mehr als eine Wunschprojektion. Noch dazu eine mit ziemlichen Schattenseiten. Das vermeintliche Wissen einer künstlichen Intelligenz besteht aus Abermilliarden kopierter Wissensbestände unserer Bibliotheken und Forschungsergebnisse, die Heerscharen schlecht bezahlter Sklaven hauptsächlich in den Ländern des Globalen Südens in die Tasten hämmern. So gesehen ist KI nicht viel anderes als der »Schachtürke« des 18. Jahrhunderts, ein damals staunenerregender Automat am Hof der Königin Maria Theresia, der vermeintlich Schach spielen konnte, in dessen Inneren aber versteckt ein leibhaftiger Mensch saß und die Maschine mittels eines komplizierten Hebelwerkes bediente.
Vergessen wir nicht: alle künstlich erzeugten Paradiese bleiben endlich. Es ist vollkommen unwahrscheinlich, dass es jemals gelingen wird, unsterbliches organisches Leben zu schaffen oder unseren Geist in eine künstliche Matrix zu transferieren. Und selbst dann würde diese spätestens im »Big Crunch« mit dem Ende unseres Universums untergehen, wenn sie sich nicht vorher schon aus unsterblicher Langeweile selbst ein Ende bereitet hätte. Keine unserer Fragen nach dem Woher und Wohin dieser Welt und der Bedeutung unserer Existenz wäre damit beantwortet.
IV
Ich meine, genau deswegen spricht die Vision des Sehers Johannes in der Lesung von einem »neuen« Himmel. Es ist auffällig, dass offenbar nicht nur die Erde einer Erneuerung bedarf, sondern auch der Himmel. Es gilt, loszulassen von unseren Wunschprojektionen und unseren Fantasien, in denen der Himmel auf ein sehr menschliches Maß geschrumpft wird; mit wieviel KI auch immer angereichert, bleiben das kleine und armselige Paradiese.
Die »Wohnung Gottes unter den Menschen« (Offb 21,3b), der wirkliche Himmel, ist anders. Jenseits unserer Vorstellungskraft, nicht von uns oder einer zukünftigen Technologie herzustellen. Der neue Himmel entzieht sich jedweder Machbarkeit. Er liegt nicht auf dem Mars und findet sich in keiner Software. Gott und das Paradies sind überhaupt keine Gegenstände dieser Welt. Wenn die Bibel von einem »neuen Himmel« spricht, dann meint sie, dass unsere Wirklichkeit größer ist als diejenige, die wir erkennen oder herstellen können.
Und doch will Gott »unter uns Menschen« wohnen. Will heißen: Dieser neue Himmel muss auch etwas mit unserer Erde zu tun haben. Wir haben jetzt schon eine Ahnung, wie dieser »neue Himmel« sein könnte. Jesus hat diese Ahnung in uns geweckt und bestärkt. Er hat von einer ganz neuen Weise gesprochen, wie Menschen miteinander umgehen können, wie wir in Frieden miteinander und mit den übrigen Geschöpfen unseres Planeten leben können. So, dass wir die Würde allen Lebens achten, auch dem Kleinsten und Geringsten unsere Zuneigung schenken. So auch, dass wir an der Endlichkeit unseres Lebens nicht verzweifeln oder alles für nichts erachten, sondern dass wir diese ganze Schöpfung auf immer in ihrem Ursprung geborgen wissen. Dann sind wir nicht angewiesen auf die Heilsversprechen imaginärer neuer Welten. Die Welt, die Jesus uns durch sein Handeln gezeigt hat, ist fantastisch genug. Jesus sagt im heutigen Evangelium: »Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!« (Joh 13,34) Er lädt uns damit ein, uns auf seine Lebensweise einzulassen und so den »neuen Himmel« schon jetzt mitten unter uns Menschen zu entdecken.
»Werde ich träumen?« Ja, ich darf und werde träumen. Aber dieser Traum ist kein leeres und sinnloses Versprechen, sondern der Beginn einer neuen Wirklichkeit.
Bild: Heribert Krotter, »Das Himmlische Jerusalem«, 90 × 90 cm, Platinen auf Holz, 2004; © Kunstsammlungen des Bistums Regensburg